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Gesundheitsversorgung an der Kriegsfront in der Ukraine

Zwei Frauen sitzen nebeneinander am Fenster.
Eine Frau spricht mit einem Psychologen in einem Zentrum für Binnenflüchtlinge in Saporischschja, Ukraine, am 15. März 2022. © Dmytro Smolyenko/Ukrinform/Getty

Ich bin ausgebildete Ärztin und habe mich auf Geburtshilfe und Gynäkologie spezialisiert. In den letzten 12 Jahren habe ich bei der International Renaissance Foundation in der Ukraine im Gesundheitswesen gearbeitet. Mit meinem Mann und zwei Kindern lebe ich in Kiew. Oder genauer gesagt: Dort lebte ich bis vor vier Wochen, als russische Bomben meine Familie und mich zwangen, unser Leben zu retten und zu fliehen.

Damals verfolgten wir die Nachrichten vom russischen Aufmarsch an der Grenze und den Plänen für eine Invasion. Mein Vater und mein Mann versuchten mich zu beruhigen, dass die Berichte übertrieben seien, dass eine Aggression nur von begrenztem Ausmaß sein würde und dass wir in unserem Haus in der Hauptstadt unseres Landes sicher sein würden. Ich war mir da nicht so sicher und begann, heimlich die Koffer der Kinder zu packen, den Medizinschrank auszuräumen und Dokumente zusammenzusuchen, um mich auf eine schnelle Flucht vorzubereiten. Dieser Moment kam jedoch wesentlich schneller als befürchtet. Am Morgen der russischen Invasion wurden wir von einem Anruf eines Kollegen geweckt: „Verschwindet schnell aus Kiew. Es ist Krieg.”

So schnell wir konnten, flohen wir zu einem Wochenendhäuschen etwa 30 Kilometer außerhalb von Kiew. Die ländliche Umgebung fühlte sich sicherer an. Wir hatten es warm, wir hatten Wasser. Man konnte die Vögel am Himmel hören. Doch schon sehr bald hörten wir keine Vögel mehr, sondern den Lärm von Kampfjets, Luftkämpfe direkt über uns und ein abgeschossenes Flugzeug nicht weit von unserem Haus entfernt. Die russische Armee plünderte die Nachbarhäuser. Wir mussten so schnell es ging alles, was wir hatten, ins Auto werfen und uns nach Lwiw in Sicherheit bringen. Wir waren zwei Tage lang unterwegs, in normalen Zeiten brauchte man für diese Strecke nur sechs Stunden. Die Straßen waren mit Autos überfüllt, wir fuhren an den brennenden Trümmern eines abgeschossenen russischen Kampfjets vorbei. 

Während dieser anstrengenden Zeit konnten meine Kolleg*innen und ich weiter arbeiten. Darauf sind wir sehr stolz. Das haben wir ironischerweise auch der langen COVID-19-Pandemie zu verdanken. Wir haben uns daran gewöhnt, aus der Ferne zu arbeiten und jeder von uns kennt seine Aufgabe. Wir konnten sicherstellen, dass unser Team an einem sicheren Ort ist, und haben Systeme entwickelt, um uns gegenseitig und unsere Führungskräfte zu erreichen. Dadurch konnten wir unsere Arbeit trotz der über uns einschlagenden Bomben fortsetzen. Scherzhaft sagen wir, dass wir wie Bienen sind, von denen jede ihren Beitrag zum Wohl des Bienenstocks leistet.

Die Alarme wegen Luftangriffen begannen unmittelbar nach Kriegsbeginn und halten bis zum heutigen Tag an. Das Gesundheitsministerium hatte Maßnahmen ergriffen, um das Gesundheitssystem auf die Möglichkeit von massenhaften tödlich oder Schwerstverletzten vorzubereiten, aber niemand war auf das Ausmaß des Blutvergießens vorbereitet, das kommen würde. Ich hörte drängende Bitten von den Chefärzt*innen der großen Krankenhäuser in Charkiw, Oblast Kiew, von Partner*innen und von uns geförderten Organisationen: Wir brauchen dringend Medikamente. Wir brauchen chirurgisches Material. Können Sie humanitäre Hilfe leisten? Der Fahrer unseres Transportunternehmens hat seinen Job aufgegeben, um sich dem Kampf anzuschließen. Können Sie einen Krankenwagen anstelle eines normalen Lieferwagens zur Verfügung stellen, um Hilfsgüter zu den Krankenhäusern an der Front zu bringen?

Unser Vorstand reagierte und gab eine Erklärung ab, dass erhebliche Summen für direkte humanitäre Hilfe und Evakuierungsmaßnahmen bereitgestellt werden. Wir drängten alle von uns geförderten Organisationen dazu, ihre Gelder, unabhängig von ihrem ursprünglichen Verwendungszweck, zur Finanzierung der Kriegskosten umzuwidmen.

Unsere Arbeit deckt die gesamte Bandbreite der Herausforderungen im Bereich der medizinischen Versorgung im Krieg ab. Patientenorganisationen, die normalerweise das Gesundheitsministerium und die lokalen Gesundheitseinrichtungen beim Zugang zu Medikamenten und der Transparenz öffentlicher Gelder überwachen, schlossen sich mit Pharmaunternehmen zusammen und arbeiten mit Gesundheitsbehörden zusammen, um umfangreiche Massenspenden aller Arten von Medikamenten und die Verteilung an Krankenhäuser, flüchtende Patient*innen an den Zwischenstationen und an der Front zu organisieren. Eine von uns geförderte Organisation, die eine Unterkunft für Opfer häuslicher Gewalt unterhielt, zog in ein sichereres Gebiet um und verdoppelte ihre Kapazität, um Frauen und Kinder aufzunehmen, die angesichts der Angriffe einen sicheren Zufluchtsort suchen.

Die Organisation 100% Life wird ebenfalls von uns unterstützt und kümmert sich um Tausende von HIV-infizierten Ukrainer*innen. Sie hat Büros in jeder größeren Stadt des Landes. Die Organisation hat ihre Büros in Kliniken und Notunterkünfte umfunktioniert und Schulungen durchgeführt , um die Versorgung und den Transport von Medikamenten aufrechtzuerhalten selbst wenn Soldaten in ihren Straßen unterwegs sind.

Wieder andere helfen tatkräftig bei der Evakuierung, bieten denjenigen, die nach Westen unterwegs sind, eine vorübergehende Unterkunft und versorgen sie mit Lebensmitteln, Wasser, Kleidung, Decken und anderen wichtigen Dingen des täglichen Bedarfs.

Ich war erstaunt über die Entschlossenheit meiner Kolleg*innen aus der Zivilgesellschaft. Nicht ein einziges Mal habe ich Klagen, Frustration oder Verzweiflung von ihnen gehört. Die Gespräche, die ich mit den von uns geförderten Organisationen führe, beginnen mit „Slava Ukraini!“ Nachdem wir nun alle in Sicherheit sind, befassen wir uns direkt mit unseren Zielen und damit, wie unsere Unterstützung denjenigen Menschen zugutekommt, denen sie gewidmet ist: Patient*innen mit chronischen Krankheiten, Kindern mit Behinderungen, marginalisierten Gruppen, drogenabhängigen Menschen. Die Organisationen tut alles, was in ihrer Macht steht, um sich gegen einen ungerechten Feind zu wehren und ihr Land zu unterstützen.

Die Geschichte einer meiner Stipendiatinnen aus dem Krieg bleibt mir im Gedächtnis. Sie kämpft gegen die Diskriminierung von Frauen und älteren Menschen und kümmert sich um die soziale Unterstützung von Menschen mit chronischen Erkrankungen. Wir wohnten in Häusern, die nur ein paar Kilometer voneinander entfernt waren. Etwa am zehnten Tag der Invasion schlugen zwei Raketen in der Nähe ihres Hauses ein und rissen das Dach und die Veranda ab. Ein paar Tage später rief sie mich an. „Ich bin in Lwiw“, sagte sie. „Ich gründe Selbsthilfegruppen für Frauen, die vor dem Krieg fliehen.“ Eine der Frauen hatte bei den Angriffen einen Sohn und einen Enkel verloren. Eine andere hatte ihr Haus durch einen Bombenangriff verloren. Die Stipendiatin hatte diese Frauen kontaktiert, um sie zu unterstützen. Außerdem wandte sie sich an Frauen, die in U-Bahn-Stationen Schutz suchten, und bot ihnen psychologische Hilfe an. Diese unglaubliche Hilfsbereitschaft, Entschlossenheit und Tatkraft im Angesicht des Bösen gibt mir Gänsehaut. Es gibt mir Hoffnung und erfüllt mich mit Stolz auf das, wozu unser Land fähig ist. Das ist der Grund, warum Russland die Ukraine mit der Hilfe der Welt niemals besiegen wird.

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