Skip to main content

Die Aufklärung der Kriegsverbrechen in der Ukraine

Eine Gruppe von Leuten steht um Menschen herum, die auf einem Nachbargrundstück ein Loch im Boden ausheben.
Ein internationales Team aus Mitgliedern der für Kriegsverbrechen zuständigen Staatsanwaltschaften besucht am 12. April 2022 ein Massengrab im ukrainischen Butscha. © Oleg Petrasyuk/EPA-EFE/Shutterstock

Die entsetzlichen Bilder aus Butscha erschüttern die Welt. Auf ihnen sehen wir die Leichen ukrainischer Zivilist*innen, meist mit ihren Händen hinter dem Rücken gefesselt, erschossen vor ihren eigenen Häusern. Nun, da der Welt unmissverständlich vor Augen geführt wird, welche grausamen Kriegsverbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung verübt werden, wird die Forderung nach Aufklärung und Gerechtigkeit zunehmend lauter.

Die Lage ist katastrophal, aber keinesfalls neu. Ich stamme aus Sewastopol auf der Halbinsel Krim, die schon seit 2014 von russischen Truppen besetzt ist. Zur Geschichte der Besetzung durch Russland habe ich deshalb einen sehr persönlichen Bezug. Bereits seit acht Jahren sammelt der Internationale Strafgerichtshof Beweise für außergerichtliche Hinrichtungen und Verschwindenlassen sowie für Fälle von Folter, politischer Verfolgung, schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen und einer Vielzahl anderer Verbrechen. Und nun kommen weitere tausende Gräueltaten hinzu. Die Mühlen der internationalen Justiz mahlen langsam und ein Erfolg ist keinesfalls sicher.

So erschreckend die Lage in der Ukraine gegenwärtig auch sein mag, bietet sie den Strafverfolgungsbehörden doch die Gelegenheit, genügend belastendes Material zusammenzutragen. Oft können die grausamen Verbrechen, die im Verlauf internationaler Konflikte verübt werden, erst nach Jahren aufgedeckt werden. Zeugen sind meist nur schwer auffindbar, da sie sich vor möglichen Repressalien des Aggressors fürchten, und zu dokumentieren, wer nun genau wofür verantwortlich ist, stellt keine mindergroße Herausforderung dar.

Doch in Butscha und anderen Gemeinden, die nun mit den grauenhaften Folgen eines noch immer andauernden Angriffskrieges zu kämpfen haben, ist die Beweislage dank Handy-Videos, Beiträgen auf sozialen Medien und Satellitenbildern eindeutig. Seit ihrem Beginn im Februar steht die russische Invasion im Brennpunkt der internationalen Aufmerksamkeit, was uns wiederum ermöglicht, Informationen über die Bewegungen und das Vorgehen der Streitkräfte von Präsident Putin in Echtzeit zu sammeln. So konnte etwa das ukrainische Militär aussagekräftige Telefongespräche mitschneiden und mit Luftaufnahmen aus anderen Quellen zeigen, wie Zivilisten in Butscha einem brutalen Angriff zum Opfer fallen.

Die zivilgesellschaftlichen Gruppen und Ermittlungsbehörden in der Ukraine sammeln bereits fieberhaft Beweismittel. Mit meiner Arbeit als Leiter des Programms für Menschenrechte und Justiz der ukrainischen „International Renaissance Foundation“ unterstütze ich ihre Bemühungen. Für die Foundation arbeite ich bereits seit fast 20 Jahren. Seit der Besetzung der Krim im Jahr 2014 gehört auch das Sammeln von Beweisen für die Aggressionen Russlands zu meinen Aufgaben.

Am Morgen des 24. Februars wurden meine Kolleg*innen und ich um 5:00 Uhr morgens brutal aus dem Schlaf gerissen, als russische Raketen in Kiew einschlugen. Ich bin sofort in unser Büro gefahren, um sämtliche Daten über unsere Arbeit und unsere Partner*innen an einen sichereren Ort im Westen der Ukraine zu bringen, bevor unsere Server in russische Hände fallen konnten, sollten diese Kiew besetzen. Danach bin ich wieder nach Hause gefahren und habe begonnen, meine Familie nach Lwiw zu evakuieren, während über unseren Köpfen russische Kampfflugzeuge ihre Angriffe flogen.

Seitdem setze ich meine Arbeit fort, dokumentiere schwere Verbrechen und versuche, die Verantwortlichen zu überführen. Wir unterstützen die Bemühungen unserer Partner*innen, indem wir die von ihnen gesammelten Beweisstücke an die nationalen Ermittlungsbehörden sowie dutzende von Berichten darüber, was passiert ist, an die Staatsanwaltschaft am Internationalen Strafgerichtshof weiterleiten. Mithilfe eines Berichts, der sich insbesondere auf Informationen beruft, die von zivilgesellschaftlichen Gruppen in der Ukraine zur Verfügung gestellt wurden, konnten bereits vorläufige Ermittlungen durchgeführt werden.

Aber das Sammeln und Sichern von Beweisstücken ist nur ein kleiner Schritt auf dem langen Weg zur Gerechtigkeit. Wir benötigen zusätzlich Mechanismen, mit denen Beweismittel wirksam vorgebracht und die Verantwortlichen einer gerechten Strafe zugeführt werden können. Neben den Soldaten an der Front schließt dies auch ihre befehlshabenden Offiziere und die politische Führungsriege Russlands ein, die den Krieg letztendlich zu verantworten hat.

Putins Aussage zu Beginn des Krieges, dass die Ukraine nicht existiere, kommt einer Erlaubnis für das russische Militär gleich, einer Erlaubnis zu missbrauchen, zu töten, zu vergewaltigen und zu foltern. Die Folgen sehen wir nun in Butscha. Und wo die russischen Truppen in den kommenden Tagen abziehen, werden wohl noch viele weitere Gräueltaten ans Licht kommen.

Das größte Hindernis besteht zunächst darin, dass es keine internationale Gerichtsbarkeit gibt, mit der ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen wirksam für das Verbrechen der Aggression zur Rechenschaft gezogen werden kann. Zudem wird Russland wohl kaum bereit sein, die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs zu den Kriegsverbrechen in der Ukraine zu unterstützen. Der Sicherheitsrat mag seine Sitzungen abhalten und die Taten Russlands verurteilen, aber solange der Hauptschuldige als Vetomacht in seinen Reihen sitzt, sind die Möglichkeiten des Sicherheitsrats, Russland einer gerechten Strafe zuzuführen, äußerst beschränkt. Wenn die Ratsmitglieder nicht in der Lage sind, Russland von seinem Angriffskrieg abzubringen oder der Justiz den Weg zu ebnen, müssen sie, wie Präsident Selenskyj es in seiner letztwöchigen Ansprache vor dem Sicherheitsrat formuliert hat, wohl oder übel „zugeben, dass sie außer Worten nichts zu erreichen imstande sind“.

Im März wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen, der führenden Institution für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte auf dem europäischen Kontinent. Auch seinen Sitz im UN‑Menschenrechtsrat hat Russland danach auf Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen verloren. Um Russland jedoch wirksam für das Verbrechen der Aggression zur Rechenschaft ziehen zu können, sollten wir die Schaffung eines gesonderten Gerichtshofs oder Tribunals mit weltweiter Zuständigkeit und der Unterstützung durch die Vereinten Nationen oder aber mit regionaler Zuständigkeit in Rücksprache mit dem Europarat oder der Europäischen Union in Erwägung ziehen. Dies ist das Ziel, auf das die Länder Europas und der Welt nun hinarbeiten müssen, wenn die Schaffung einer wahren Rechenschaftspflicht jemals gelingen soll.

Dies alles sind keine kleinen Hindernisse auf dem Weg zur Gerechtigkeit. Aber sie sollten uns nicht in unserem Bestreben behindern, Russland für seine Gewaltverbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Wir werden die ukrainischen Ermittlungsbehörden auch weiterhin unterstützen, indem wir forensische Untersuchungen der von russischen Truppen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzten Waffen durchführen. Auch unsere Zusammenarbeit mit den zuständigen Staatsanwaltschaften werden wir unermüdlich fortsetzen und ihnen die stichhaltigen Beweismittel zukommen lassen, die sie benötigen, um ihre Strategien in den abertausenden von Prozessen, die nun unweigerlich auf sie zukommen, erfolgreich umsetzen zu können. Wir setzen uns auch weiterhin für die Zusammenarbeit zwischen Ermittlern, Staatsanwälten und Richtern in der gesamten Region ein und helfen dabei, die notwendigen Kapazitäten zu schaffen. Auch unser Wissen und unsere Kompetenzen stehen uneingeschränkt zur Verfügung.

Wir befinden uns am Anfang einer langen Reise. Doch die Bereitschaft unserer zahlreichen Alliierten in ganz Europa und der Welt stimmt mich hoffnungsvoll. Die Annexion der Krim fand 2014 weitestgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit statt. Um ihre Geschäfte wie gewohnt weiterführen zu können, schauten sowohl Unternehmen als auch ganze Staaten nur zu gerne weg. Doch heute nicht. Heute kommt die Welt zusammen und setzt sich für ein Ende des Krieges und die rechtliche Aufarbeitung und Verfolgung der Gräueltaten Russlands ein. All dies gibt mir Hoffnung. Die Hoffnung, dass wir schlussendlich einen Weg finden werden, die Mechanismen zu schaffen, die wir benötigen, um die schrecklichen Verbrechen, die gerade in der Ukraine begangen werden, aufzuarbeiten und die Verantwortlichen ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

Read more

Subscribe to updates about Open Society’s work around the world

By entering your email address and clicking “Submit,” you agree to receive updates from the Open Society Foundations about our work. To learn more about how we use and protect your personal data, please view our privacy policy.